Wer kennt´s nicht? Da hat man so eine Seite an sich, die einen nervt, die dauernd querschießt oder immer wieder aus der Fassung bringt. Oder man hört schon mal: „XY ist ja ein netter Kerl, aber manchmal hat der eine Seite an sich, die geht gar nicht!” Heute stelle ich Euch eine super Methode vor, die ganz einfach anwendbar ist und eine große Wirkung hat, vor allem, wenn es um unser Monatsthema Loslassen geht: das Seitenmodell.

Was Du für diese Übung brauchst?

Eigentlich nichts, außer ein Problem, das Dich immer wieder nervt und für Störfeuer sorgt. Eine Eigenschaft, die Dir in die Parade fährt, das Leben schwer macht und die Du am liebsten eigentlich einfach nur „weghaben“ möchtest. Das kann so alles Mögliche sein. Vielleicht nervt es Dich, dass Du ständig die Geduld verlierst, Dich für alles verantwortlich fühlst oder als zu wenig mutig empfindest. Oder es belastet Dich, dass Du in Diskussionen immer wieder nachgibst oder vor Präsentationen ganz aufgeregt bist? Was auch immer Dich stört und Du gern loslassen möchtest: In diesem Tool geht es darum, sich die als problematisch erlebte Seite einmal etwas genauer anzuschauen.

Wie viele andere Ansätze gehen wir auch im Seitenmodell, das auf den wunderbaren Gunther Schmidt, den Begründer der hypnosystemischen Therapie zurückgeht, davon aus, dass sich unser „Ich“ aus verschiedenen Persönlichkeitsanteilen zusammensetzt. Im Inneren sind das z.B. unterschiedliche Gefühle und Emotionen, im Außen diverse Rollen, die wir innehaben. Da ist es nur logisch, dass es zu Ambivalenzen kommen kann – ganz normal also und nicht schlimm, so lange wir es nicht als problematisch empfinden.

Mit dem Seitenmodell kreieren wir ein „kompetentes Ressourcenverständnis vom Problem.“ Dabei gehen wir davon aus, dass hinter jeder Verhaltensweise eine positive Absicht steckt. Etwas, das wir als Problem erleben, kann bspw. auf ein zunächst nicht sichtbares Bedürfnis hindeuten und somit schlicht etwas Gutes für uns anstreben, wenn auch auf eine Weise, die das nicht vermuten lässt und uns alles andere als guttut.

 

Aber der Reihe nach. Nimm Dir auch diesmal ein bisschen Zeit und lege Dir am besten etwas zum Schreiben bereit. Und dann überlege:

  • Was genau macht diese Seite? Wie erlebst Du sie?
  • Wann hast Du sie zum ersten Mal wahrgenommen?
  • Wie zuverlässig taucht sie auf?
  • Was sind die Auslöser, was ist der Kontext?

Und dann frag Dich mal, wie Du diese Seite benennen könntest. Ja, gib dem Kind einen Namen! Denn indem Du mit Deiner ungeliebten Seite auf diese Weise in Kontakt gehst, gelingt es Dir besser, sie anzunehmen und ihre positive Absicht zu erkennen – und sie vielleicht sogar loszulassen.

Wenn Du Dir nun vor Augen führst, dass hinter jeder Verhaltensweise also eine positive Absicht steckt, und mal annimmst, dass natürlich auch diese Seite von Dir erst einmal nur etwas Gutes im Sinn hat: Was könnte das sein? (Möglicherweise ist es im ersten Moment schwierig und kaum zu glauben, dass diese problematische Seite eigentlich etwas Gutes für Dich bezwecken will. Gib dem Ganzen etwas Zeit und eine Chance, Du wirst ganz sicher fündig.)

Dann, wenn Du die positive Absicht dieser Seite herausgearbeitet hast, überlege Dir Folgendes:

  • Wann hat es Dir schon einmal genützt, dass diese Seite aufgetaucht ist?
  • Inwiefern schaffst Du es nun, diese Seite mit ihrer positiven Absicht wertzuschätzen?
  • Wofür bist Du dieser Seite vielleicht sogar dankbar?

Nun bist Du wirklich schon einen gewaltigen Schritt weiter: Du kannst Dein eigentliches Problem aus einer neuen Perspektive betrachten und kannst dieser Verhaltensweise Akzeptanz entgegenbringen!

Wie fühlt sich das für Dich an? Welchen Unterschied nimmst Du wahr?

 

Du kannst jetzt überlegen, wie die Seite auf eine für Dich passendere Weise mit Dir kooperieren könnte, das heißt, welches andere Verhalten könnte sie beim nächsten Mal zeigen, was Dir weniger Probleme bereitet? Du kannst daraufhin versuchen, Deine Seite neu zu briefen. Das mag ein bisschen verrückt klingen, doch geht es hier vor allem darum, Dir bewusst zu machen, dass Du Einfluss auf den Umgang mit dem unerwünschten Verhalten hast und so den problematischen Zustand verändern kannst, indem Du nämlich aus dem Problemmuster in das Lösungsmuster kommst. Gunther Schmidt spricht in diesem Zusammenhang von einem kompetenten Organismus und betrachtet Symptome als „kompetente Rückmeldeschleifen“, mit denen uns unser unwillkürliches inneres Wissen zeigt, dass gerade etwas fehlt. In dem Moment, wo wir achtungsvoll damit umgehen, kommen wir weg vom Problemerleben hin zum Lösungserleben und in unsere Kompetenz.

Wenig hilfreich ist es, sich, also sein gesamtes „Ich“ mit einer Seite gleichzusetzen oder gar zu verwechseln, da man in diesem Fall leicht in Selbstabwertungsschleifen geraten kann. Stattdessen können wir über veränderte Sprachmuster einen anderen inneren Dialog mit uns selbst führen und so einen Bezug der anderen Art zu unserem Problem herstellen. Meldet sich mal wieder diese Seite, die wir mit ihren Symptomen als problematisch wahrnehmen, können wir eine wertschätzende Beziehung aufbauen, indem wir sie als Botschafter für unerfüllte Bedürfnisse sehen und damit auch ihre Bedrohlichkeit vermindern.

 

„Jedes Problem ist ein kompetentes Feedback über Mangel.“ 

(Gunther Schmidt)

Diese Erkenntnis ins Bewusstsein zu rücken, ist schon einmal die halbe Miete. Doch wie bekommt man wieder einen Zugang zu seinen Kompetenzen, wenn einen die negativen Gefühle, mit denen die Seite für gewöhnlich um die Ecke kommt, übermannen? Zumal alles, was Stress, Unsicherheit oder Angst macht, unseren Blick verengt und unseren Zugang zu Kompetenzmustern und flexibler kreativer Entwicklungsmöglichkeit hemmt?

 

Das Schlüsselwort ist Fokus. Der hypnosystemische Ansatz fördert durch die Lenkung der Aufmerksamkeit ein Erleben von Kompetenz, das dazu beiträgt, Ziele selbstwirksam zu erreichen. Neuere Erkenntnisse aus der Hirnforschung bestätigen, dass einmal gemachte Erfahrungen dauerhaft im Gehirn gespeichert werden, inklusive der dabei erworbenen Kompetenzen. Die bewusste Fokussierung auf erfolgreiche Ereignisse unterstützt den Übergang von einer problemorientierten zu einer lösungsorientierten Perspektive. Dabei werden die persönliche Selbstwirksamkeit und vorhandene Ressourcen wiederentdeckt und aktiviert. Das angestrebte Erleben des Zielerreichens wird detailliert und anschaulich beschrieben, um die Motivation für Veränderungen zu steigern.

Wichtig ist also die Erkenntnis, dass die Seite eigentlich eine positive Absicht hat und da sein darf. Andernfalls ist es wie mit der berühmten Wasserball-Metapher: Wenn Du Dir vorstellst, dass Deine problematisch erlebte Seite wie ein Wasserball ist, denn Du weghaben willst, indem Du ihn krampfhaft versuchst, unter Wasser zu drücken, kannst Du Dir folgendes vorstellen:

Erstens ist es total schwierig, den mit Luft gefüllten Ball überhaupt unter Wasser zu drücken. Und zweitens ist es schlicht unmöglich, dass er unter der Wasseroberfläche bleibt, sobald Du ihn loslässt. Im Gegenteil schießt er noch stärker hervor, je mehr Du versuchst, ihn unterzutauchen.

Der gesunde Ansatz besteht somit darin, Deine Seite zu akzeptieren um sie zu verstehen, dann erst wird ein Loslassen möglich. Wenn Dir das gelingt, kann Dir dieser Umgang übrigens auch in Situationen helfen, in denen Dich andere Menschen mit einer ihrer Seiten oder Eigenschaften herausfordern.

Viel Spaß und Erfolg beim Ausprobieren!