Von Freunden, Nachbarn und Bedürfnissen
Ich spreche mal wieder mit meiner Freundin aus Deutschland. Wir ticken ähnlich. Haben eine eigene Meinung, stehen dazu – oft sagen wir: Wir haben Arsch in der Hose. Gerade tauschen wir uns aus: Corona, Homeoffice, Maßnahmen, stayathome.
Sie regt sich aktuell massiv über eine andere Freundin auf, die angesichts der Einschränkungen in Verbindung mit der Covid 19-Pandemie trommelt: „Wir werden eingesperrt, bevormundet. Die Maßnahmen sind wirtschaftlich nicht verantwortbar und führen zu psychischen Störungen!“
Uff. Da denkt man, man kennt seine Freunde und selbst, wenn man mal unterschiedlicher Meinung ist, findet man wieder einen Nenner. Aber das jetzt? „Mich regt das so auf! Ich hätte das nie von ihr gedacht. So eine blöde Stimmungsmache. Ich versuche ja echt, sie zu verstehen, aber sie ist überhaupt nicht empfänglich für Fakten und eine andere Haltung. Wir wissen doch noch nichts wirklich über dieses Virus. Wie kann man da so etwas herausposaunen und sich auf irgendwelche Studien beziehen, die noch gar keine Aussagekraft haben?“, sagt sie mir.
Ich kann sie gut verstehen. Auch ich habe in den letzten Wochen ein paar ähnliche Erfahrungen gemacht. Zum Beispiel habe ich diverse „Nachrichten“ bekommen, die aus der Weiterleitung eines Links bestanden, bei dem x-beliebige Wissenschaftler oder Ärzte erklären, dass die von der Politik getroffenen Entscheidungen auf keiner wissenschaftlichen Grundlage beruhen und völlig übertrieben sind, weil das Virus dem einer Grippe gleicht und die Verluste durch die Maßnahmen viel gravierender seien, als die durch Corona selbst.
Ich lasse jedem seine Meinung, habe mich entschieden, aber trotzdem bei meiner zu bleiben. Und doch frage ich mich: Warum sendet man mir diese Links und Clips kommentarlos? Vor allem das „kommentarlos“ hat mich dazu bewogen, nicht darauf zu reagieren. Dennoch bemerke ich, dass mich das doch in einer gewissen Weise beschäftigt. Wieso?
Vermutlich, weil es sich um etwas Grundsätzliches handelt? Um etwas, das unser persönliches Verhältnis unmittelbar beeinflusst? Um Werte? Mir scheint: Es ist kompliziert.
Ich versuche es mal so anzugehen: Als Coach weiß ich, dass hinter jedem Verhalten grundsätzlich eine positive Absicht steht. Und dass dieser auch ein bestimmtes Bedürfnis zugrunde liegt. Was könnte das also sein?
Dies lässt sich so erst mal nicht beantworten. Doch ich kann versuchen, mich da selbst etwas rauszunehmen. Denn indem ich mir bewusst mache, dass hinter dem für mich unverständlichen Verhalten der Freundin eine positive Absicht steckt, ja ein Bedürfnis, ermöglicht mir das selbst eine andere Sichtweise einzunehmen. Denn offenbar gibt es bei dem Thema etwas, dass die Freundin triggert und diese Reaktion in ihr hervorruft. Etwas, das sich vorher noch nicht aufgetan hat.
„In der Krise beweist sich der Charakter.“ sagte einmal der Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt. Das trifft sicher in vielen Situationen zu. Doch wenn man sich vor Augen führt, dass es eine vergleichbare Krise so noch nicht gab, könnte das erklären, dass doch einige Menschen sehr verunsichert sind und mehr Ängste haben, als andere. Überkommende Emotionen blockieren das klare Denken. Vielleicht wäre ein „In der Krise zeigt sich die Resilienz.“ für unser Beispiel passender?
Wenn ich versuche, dies auf diese Art und Weise zu verstehen, hätte ich zum einen die Möglichkeit, auf die Freundin einzugehen und zu fragen, ob sie sich Unterstützung wünscht. Zum anderen könnte ich mich aber auch selbst bewusst aus dieser Situation hinauszuziehen. In beiden Fällen hätte ich die Entscheidungs- und Handlungskompetenz mit dem Wissen, dass die Haltung der Freundin nichts mit mir zu tun hat, sondern mit ihren eigenen Bedürfnissen.
Ob ich dann für mich beurteile, ob dies etwas Grundlegendes ist, das mein Verhältnis zu der Freundin nachhaltig beeinträchtigt, kann ich in einem nächsten Schritt überlegen.
Fun fact: Diese Haltung einzunehmen ist nicht immer leicht. Sie kann einen ziemlich challengen. So ging es mir vor ein paar Tagen, als ich mit meinem Sohn eine Dribbel-Übung mit dem Basketball auf unserer Terrasse machte. Es war ein normaler Wochentag, halb sieben abends, schönes Frühlingswetter. Wir hatten kaum angefangen, als der Nachbar aus dem 1. Stock des Hauses nebenan, der zuvor recht laut telefoniert hatte, vom Balkon runtergrölte, dass wir mit dem blöden Ball aufhören sollten. Wir machten weiter. Er rief erneut, wir sollen aufhören, er würde gleich herunterkommen. Ich weiß nicht, was mich triggerte, aber ich antwortete „Gerne, dann können wir zusammenspielen.“ Ups. Das kam nicht gut, sondern provozierte wiederum ihn und er schrie, dass dies hier kein Spielplatz wäre. Was selten vorkommt, dann aber doch in diesem Moment passierte: mein Mund war schneller als mein Hirn (wenn auch auf eine vermeintlich witzige Art) und ich rief „Es ist auch keine Telefonzelle.“
Schweigen.
Kurz darauf fielen zwei sehr böse beleidigende Worte über die Hecke in unsere Richtung. Das hatte er jetzt nicht im Ernst gesagt? Ich war still. Äußerlich. Innerlich war ich wütend. Was erlaubt der sich? Als ich kurz darauf wieder klar denken konnte, sagte ich zu meinem Sohn: „Weißt du … er kann sich nicht anders mitteilen. Er hat irgendein Bedürfnis, das wir nicht kennen.“
Okay, das war Erste Hilfe. Ich toleriere das aber bis heute nicht. Coaching-Haltung hin oder her. Da ist auch jegliches Argumentieren hinfällig.
In der Krise zeigt sich die Resilienz. Jedoch nicht bei ihm.
PS: Seid lieb und habt ein bisschen Verständnis füreinander. Auch und gerade für die Kinder.
PPS: Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen … Doch ich werde sehen, dass sich mein nächster Blog-Artikel nicht mit dem Virus beschäftigen wird 😉